In der Sakristei in Rotenhain befinden sich zwei Fahnen, die seit längerer Zeit nicht mehr verwendet werden. Es handelt sich um eine Marienfahne, die einen weißen mit einem Kreuz gekrönten Buchstaben „M“ auf rotem Grund zeigt, und um eine Christusfahne, die ein weißes Christus-Monogramm ("In diesem Zeichen wirst du siegen" - Das X und das P sind die griechischen Buchstaben Chi und Rho, mit denen das Wort Christus beginnt) auf rotem Grund zeigt. Es sind die Fahnen der katholischen Jugend in Rotenhain, die im Jahr 1946 durch Pfarrer Otto Reuter angeschafft wurden.
Pfarrer Reuter war 1933 zum Priester geweiht worden und danach als Kaplan in Salz, Wetzlar und Frankfurt am Main tätig gewesen. Während des Krieges arbeitete er als Sekretär beim Bischof in Limburg. Im Dezember 1945 wurde er auf eigenen Wunsch Nachfolger von Pfarrer Gläßer in der Pfarrei St. Martin Rotenhain.
Die Zeit des Nationalsozialismus war für die katholische Kirche in Deutschland eine schwere Zeit. Im Gegensatz zu den meisten evangelischen Landeskirchen standen die Mehrheit der katholischen Priester und Bischöfe den Nationalsozialisten zunächst skeptisch oder ablehnend gegenüber. Zwar sollten mit dem Reichskonkordat vom 20. Juli 1933 eigentlich katholische Institutionen und kirchliches Leben in den Gemeinden vor staatlichem Zugriff geschützt sein, aber:
„Eine Zäsur in der Bistumsgeschichte stellt die Zeit des Nationalsozialismus dar, in der auch die katholische Kirche bedrängt wird. Die katholischen Jugendorganisationen, konfessionellen Schulen und Kindergärten sowie der Religionsunterricht an staatlichen Schulen werden verboten. Klöster werden aufgehoben, in St. Georgen wird der Lehrbetrieb durch Hausdurchsuchungen und Verhaftungen behindert. Auch Pallottiner aus dem Limburger Missionshaus werden immer wieder verhaftet. Der damalige Frankfurter Stadtpfarrer Alois Eckert ist von Februar bis Mai 1937 in Strafhaft, weil er sich weigert, die Kirche zum "Tag der Bewegung" am 9. November 1935 zu beflaggen. In Frankfurt protestieren auch einzelne Geistliche gegen die Novemberpogrome 1938. Limburger Bischof in dieser Zeit ist Antonius Hilfrich. Er agiert in der Auseinandersetzung mit den Nationalsozialisten zurückhaltend, protestiert aber in aller Schärfe im August 1941 beim Reichsjustizministerium gegen die Euthanasie-Morde in Hadamar. Sein Nachfolger, Ferdinand Dirichs, der 1947 ins Amt kommt, gilt als treibende Kraft des Klerus im Widerstand gegen die Nationalsozialisten.“ (www.bistumlimburg.de; 02.07.2017)
Wie überall in Deutschland mussten auch im Bistum Limburg an kirchlichen Gebäuden zu gebotenen "Festtagen" mit Hakenkreuzflaggen gehisst werden. Auch das Bischofshaus in Limburg machte dabei keine Ausnahme und musste dieses unsägliche Symbol des Atheismus und der Unmenschlichkeit ertragen.
Mit dem 3. Reich gingen auch seine Symbole unter. Alles, was in Dörfern und Städten an Hitler und den Nationalsozialismus erinnern konnte, „verschwand“ in kürzester Zeit - entweder als "Andenken" bei den Besatzungssoldaten oder vernichtet durch die Repressalien befürchtenden Besitzer.
Man war nun vom Nationalsozialismus befreit, aber die Wirtschaft lag am Boden. Nur langsam begann der Wiederaufbau, - auch bei der katholischen Kirche. Der neue Rotenhainer Pfarrer wollte so schnell als möglich wieder eine ordentliche katholische Jugendarbeit in seiner Pfarrei beginnen:
„Nach der wiedergewonnenen Freiheit der Kirche wurden auch die Banner der Jugend wieder entrollt. Unsere Jugend sollte darum auch Banner bekommen. Zu kaufen waren noch keine. Ich erbat mir die Hakenkreuzfahne des Bischofshauses und ließ daraus in der Pfarrei ein Christusbanner und ein Marienbanner fertigen. Am Christkönigsfest erhielten sie in einer Feierstunde der Jugend ihre kirchliche Weihe. Mögen Jesus und Maria in den Herzen unserer Jugend den Hakenkreuz-Ungeist überwinden." (Zitat aus der Pfarrchronik von Rotenhain aus dem Jahr 1946)

Diese beiden Fahnen, deren Fahnenstangen erheblich älter sind als das Fahnentuch, sind also die Reste der Hakenkreuzfahne, die in der Zeit des Nationalsozialismus am Bischofshaus aufgehangen werden musste. Durch Zufall war sie erhalten geblieben und Pfarrer Reuter schien das gewusst zu haben. In den Notzeiten seine Beziehungen nach Limburg ausnutzend, ließ Pfarrer Reuter dann aus diesem Symbol des unchristlichen Nationalsozialismus ein Zeichen des Aufbruchs und der Hoffnung herstellen, das viele Jahre lang von der katholischen Jugend der Pfarrei St. Martin Rotenhain stolz zu festlichen Anlässen getragen wurden.
Die Fahnen sollen nun dem Diözesanmuseum in Limburg als Dauerleihgabe zur Verfügung gestellt werden, damit diese Zeugnisse der Kirchengeschichte und der Nachkriegszeit für die Zukunft erhalten bleiben.
Vielleicht weiß ja noch jemand, wer in der Pfarrei die Fahnen hergestellt hat?